Erstmals dramatisiert der zuletzt mit dem Georg-Büchner-Preis 2019 ausgezeichnete Schweizer Dramatiker, Romancier und Essayist Lukas Bärfuss, dessen Stücke weltweit gespielt und dessen Romane in zwanzig Sprachen übersetzt wurden, einen Klassiker der Weltliteratur. Fasziniert von der Figur des Julien erzählt er die Geschichte des Protagonisten aus Stendhals «Rot und Schwarz» neu.
Lukas Bärfuss: «Julien ist klug, zart, schön. Der Vater schickt ihn zu den Pfaffen, damit sie ihn glattbügeln und er ihn verkaufen kann. Als Hauslehrer an den reichsten Mann im Dorf, den Bürgermeister. Seine Frau ist dreissig, aber schon tot. Gestorben an ihrer Ehe. Das Einzige, was sie ihm geben kann, ist ihr Körper. Er braucht jetzt eine Leiter, er braucht Intrigen. Er lernt schnell die Techniken der Täuschung. Dabei begegnet er dem Menschen, seiner Hinterlist, seiner Schwäche. Die Leute staunen über Julien. Er kann die Bibel auswendig hersagen. Er denkt schwer. Man hat ihn verkauft. Er ist beleidigt, er ist stolz, und er will nach oben. Er muss aus dieser Provinz verduften. Weg von dieser Frau. Er verschwindet in die Lichter der Hauptstadt, in das Haus eines Königsmachers. Seine Tochter sucht sich ein Spielzeug. Sie würde ihn vorziehen diesen Schwammköpfen, die vor ihr die Runde drehen, die Abkömmlinge sterbender Geschlechter. Er wird sich seine Ambitionen nicht ruinieren. Er wird kalt und kälter, bis das Eis seiner Zeit sein Herz ganz gefroren hat. Und damit hat er Erfolg. Der Marquis glaubt, ein Mann mit kaltem Blut wird ihm nützlich sein. Julien bekommt die Hand seiner Tochter. Und er wird bald seinen Kopf verlieren. Denn die Leidenschaft, dieses Übel, das heisse Blut, der Samen, der gleichzeitig Kinder und Rachsucht zeugt – die alten Geschichten, die ehrlichen Wunden in einem falschen Herz, oder die falschen Wunden in einem ehrlichen Herz, sie werden ihn den Kopf kosten, schon bald. Was bringt ihn um? Rache? Seine rohe Wut über den Verrat? Die Unmöglichkeit der Liebe? Hat er es verdient? Sein Schicksal? Julien will die Verräterin durch einen Schuss ins Herz aus der Welt der Sterblichen entfernen. Die Richter hätten es Julien vielleicht nachgesehen, wenn sein Opfer nicht den Altar mit seinem roten Saft beschmiert hätte. Brennende Herzen, heisse Küsse, Schüsse in einer Kirche! Der Kopf, der solchen Unsinn wälzt, gehört abgeschlagen.»
Rot ist die Farbe der Leidenschaft und Liebe, Schwarz ist die Farbe des Klerus und der konservativen Politik: Juliens Schicksal ist von beiden Farben gezeichnet. Die Uraufführung wird inszeniert von der Hausregisseurin Nora Schlocker, die bereits für die Inszenierungen von Maxim Gorkis «Kinder der Sonne», «Farinet oder das falsche Geld» von Reto Finger nach Charles Ferdinand Ramuz, «Vor Sonnenaufgang» von Ewald Palmetshofer, Goethes «Urfaust» sowie zuletzt für «Das Versprechen» nach dem Roman von Dürrenmatt verantwortlich zeichnete.