Ein Hauswart, erschlagen: ohne Grund, ohne Motiv, einfach so. Durch den immer gleichen Arbeitsalltag von sich und dem Leben entfremdet, greift der Kassierer einer Bank zur Axt und mordet. Diese Tat ohne klar ersichtlichen Beweggrund erschüttert Staatsanwalt Martin, der mit diesem Fall betraut ist, nachhaltig. Im Mörder und dessen Tat sieht er sein eigenes Gefangensein in einer von Pflicht, Gesetz und Ordnung dominierten bürgerlichen Existenz gespiegelt. Schlagartig nimmt den Staatsanwalt eine Urangst gefangen und treibt ihn zur Flucht in die märchenhafte Welt eines mysteriösen Alter Ego: in die Welt von Graf Öderland.
Als Graf Öderland beginnt Martin mit der Axt in der Hand einen blutigen Feldzug gegen den gesellschaftspolitischen Status quo. Innert kürzester Zeit wird er zum Befreiungshelden, hinter dem sich Benachteiligte und Unzufriedene zu einer grossen Anhängerschaft formieren. Tief unten in der Kanalisation wird die Revolte gegen die herrschende Macht und deren System geplant. Schliesslich stürzt Graf Öderland/Staatsanwalt Martin ohne Rücksicht auf Verluste in den eigenen Reihen sogar die Regierung.
Was als Ausbruchsfantasie begann, verkehrt sich in einen nimmer enden wollenden Traum, aus dem der Staatsanwalt nicht mehr erwachen kann. Aus dem er nicht mehr erwachen darf, weil er für unsere Hoffnung steht und wir seinen Traum weiterträumen wollen: «Ich will nicht die Macht! Ich möchte leben!» Angesichts gegenwärtiger politischer Veränderungen und der damit einhergehenden Unzufriedenheit mit den amtierenden Regierungen wird die Figur des Grafen Öderland zum spannungsgeladenen Vexierbild: ist er lebensbejahender Befreiungsheld oder machthungriger Despot ohne politische Vision?
Stefan Bachmann widmet sich mit «Graf Öderland» nach Schillers «Wilhelm Tell» erneut einem schweizerischen Stoff, der das Bedürfnis nach Befreiung von gesellschaftspolitisch etablierten Formeln und Codes untersucht, dabei aber auch in die Untiefen des Unbewussten hinabsteigt, um dessen überwältigende Macht auszuloten.
Max Frisch bezeichnete «Graf Öderland» als sein liebstes Stück, da es etwas Geheimnisvolles habe, das er selbst nicht ganz durchdringe. In seinem Versuch, einen gewöhnlichen Menschen zu zeichnen, der sichin der Figur des Grafen Öderland spiegelt, verbindet er das Allgemeine und Politische mit dem Privaten; ein Unterfangen, welches er über die Jahre drei Mal verändern sollte.