Es ist ein warmer Sommerabend in Berlin: Mai, wunderschönes, mildes Klima. Das was man im allgemeinen als gelungenen Tag bezeichnet. Heute ist die Premiere der Rockoper "Tommy" im Admiralspalast. Bislang hatte ich nie besonderen Zugang zu diesem Stück und hatte mich auch nie mit der Musik von The Who beschäftigt. Aus welchen Gründen auch immer, ist dieses Musical an mir vorbei gegangen und gesehen hatte ich auch keine Inszenierung. So war ich auf dass, was mich an diesem Maiabend erwartete nicht vorbereitet.
Rückblickend erinnere ich mich an einige Produktionen die so schlecht waren, dass man als Zuschauer nicht nur um die verschwendete Zeit trauert, sondern auch mit einer miesen Laune nach Hause geschickt wird. Macbeth im Stadttheater Aachen war so ein Fall. Da wurde das Kunstblut literweise von der Requisite persönlich auf die Bühne gebracht und ausgeschüttet. Oder Volksbühne Berlin: Sophie Rois schreit und krakeelt sich durch eine gefühlte fünf Stunden Version der "Kameliendame".
Und dann sitzt man im Theater und wird Zeuge eines wahren Ereignisses und der besten Musicalproduktion, die Berlin in den letzten Jahren sehen konnte. Was Regisseur Ryan McBryde inszenatorisch auf die Bühne zaubert ist ein Geniestreich.
Als Kind sieht Tommy Walker einen Mord mit an – mit verheerenden Auswirkungen. Durch dieses Trauma wird Tommy blind, taub und stumm. Er wird von vermeintlichen Freunden und sogar seiner Familie über Jahre misshandelt. Schließlich wird Tommy wie durch ein Wunder zum "Pinball Wizard" (Flipperkönig) und versammelt bald als Heilsbringer eine große Anhängerschaft um sich. Doch auch als Star nutzt man ihn aus. Als er das erkennt, beschließt er, alles radikal zu ändern...
Es ist eine grausame, teilweise heftige Geschichte die dem Zuschauer zugemutet wird und die von einem hochbegabten, frischen Ensemble gespielt und gesungen wird. Es ist die Geschichte der unvorstellbaren Gewalt des Krieges und des Monstrums namens Mensch. Tommy ist dabei ein wehrloses Opfer, der von seinem ekelhaften Uncle Ernie (hervorragend: Jamie Tyler) sexuell missbraucht wird und den Attacken seines Cousin Kevin (sehr gut: Craig Rhys Barlow) ausgeliefert ist. Dialoge und Songtexte sind komplett in Englisch und es ist ein absoluter Hochgenuss dem British English der Darsteller zu lauschen. Einen einzelnen herauszuheben ist beinahe unmöglich, denn jeder der Sänger gibt formvollendete, perfekte Rollenportraits ab die begeistern und den Zuschauer in entzücktes Erstaunen versetzen. In den vielen Shows die ich gesehen habe, war es seltenst zu erleben das so lupenrein gesungen wurde. Die gesehene Vorstellung hätte auch ohne eine einzige technische Veränderung 1:1 auf CD gepresst werden können so perfekt und astrein sind die Leistungen des großartigen Ensembles. Aus London bin ich generell höchste Qualität gewohnt und diese Inszenierung braucht sich vor keiner West End Show zu verstecken. Eine überragende Arbeit! Bravo!
Natalie Langston ist als Mrs Walker grandios. Sie singt und spielt wunderschön und steht bei jedem ihrer Auftritte im Focus des Interesses. Eine Sängerin die technisch ausgezeichnet singt und in jeder Lage ihrer wandlungsfähigen Stimme begeistert und immer neue Akzente setzt. Besonders ihr Duett "I Believe My Own Eyes" mit Mark Powell (Mr Walker) wird zum emotional berührenden Höhepunkt.
Viele Darsteller, die am hervorragenden English Theatre Frankfurt gearbeitet haben, konnten anschließend Karriere im West End machen. Jon Robyns war in Frankfurt als Mark Cohen in "Rent" zu sehen, bevor er in der Londoner Uraufführung von "Avenue Q" das Publikum begeistertE. Craig Mather war am English Theatre als Melchior in "Spring Awakening" zu erleben und wurde anschließend von Cameron Mackintosh als Marius in "Les Miserables" engagiert. Ein Name, der sich bald in diese Liste einreihen wird, ist Leo Miles. Er ist als Tommy fantastisch und verzaubert mit einer echten Star Quality. Miles singt exquisit und scheinbar mühelos die noch so unbequemsten Töne. Eine reife und überragende Leistung! Von diesem Künstler werden wir in Zukunft sicher noch sehr viel hören und sehen. Kimmy Edwards kann im zweiten Akt mit ihrem Song "Acid Queen" richtig auftrumpfen und überzeugt auf ganzer Linie mit grandioser Rockstimme und starker Ausstrahlung als Gypsy Queen.
Regisseur McBryde hat diesen Tommy vollkommen demontiert um ihn dann auf geniale Weise wieder zusammen zu setzen. Er weicht von Des McAnuff's Originalbuch ab, was der Geschichte aber nicht schadet, ganz im Gegenteil. Was er an innovativen Ideen bereithält überrascht stets aufs neue und sorgen für euphorischen Beifall des Publikums. Besonders das Ende ist spannend und radikal und nicht überzuckert wie im Broadway Original. Es bleibt aber auch dem Zuschauer überlassen ob die Geschichte von Tommy nur ein Phantasiegebilde war und seine Wandlung ein Hirngespinst oder nicht.
In Windeseile wird aus der Bühne (Diego Pitarch) ein Kreissaal, Wohnzimmer der Walkers, Klinik oder Kirche. Pitarch arbeitet mit effektvollen Projektionen die genau richtig und nie überstrapazierend eingesetzt werden. Drew McOnie's Choreographie ist frisch und hält einige Überraschungen und tolle Ideen bereit. Die Kostüme von Eva Weinmann sind gut gewählt und die Idee Tommy, der von drei unterschiedlichen Darstellern verkörpert wird, stets in rot auftreten zu lassen sehr effektiv und gut durchdacht. Die hautfarbene Maske die er dazu trägt, wirkt unheimlich und lässt ihn wie eine zarte Puppe wirken, die von der Außenwelt abgeschottet ist, scheinbar unfähig mit ihr zu interagieren und zu kommunizieren.
Diese hervorragende Aufführung von Tommy wird vollkommen zurecht am Ende mit minutenlangem Beifall und stehen Ovationen gewürdigt und gefeiert. Als Zuschauer hat man an diesem Abend auch eine Energie in sich die raus muss in Form von viel Applaus für diese überragende Inszenierung und die macht diesen lauen, schönen Maiabend noch zu einem ganz besonderen, denkwürdigen Tag. Um mit dem Text von The Who in abgewandelter Form zu sprechen: "See it! Feel it!"
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