Ich muss ganz ehrlich gestehen: etwas neidisch war ich schon, als meine Chef Redakteurin in New York mir von einem Benefiz Reading von „Cabaret“ erzählte. In intimer Atmosphäre lud Anne Hathaway Freunde und Kollegen wie Audra McDonald und Raul Esparza ein, um mit Ihnen in Joe’s Pub dem Musical von John Kander und Fred Ebb Tribut zu tollen. Mit euphorischen Beifallsstürmen und stehenden Ovationen feierte das Publikum diesen Abend, der zu dem das Public Theater in New York finanziell unterstützte. Beifallsstürme erlebe ich bei der von mir besuchten Premiere auch, nur die Stadt ist anders, das Musical allerdings ist das gleiche: „Cabaret“ in Oberhausen. Dass Besucher am Ende einer Musicalproduktion von ihren Sitzen springen, scheint mittlerweile ein inflationär grassierendes Phänomen zu sein. Ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, als man sich von seinem Platz erhob, weil der Applaus einfach nicht mehr ausreichte um respektvoll den Künstlern auf der Bühne Bewunderung auszusprechen. So bleibe ich am Ende der von Roland Spohr inszenierten Aufführung etwas fassungslos im Sessel zurück, sitzend! „Cabaret“ findet man mittlerweile auf jedem zweiten Spielplan der Republik. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da die Produktion auch problemlos mit dem hauseigenen Ensemble aufgeführt werden kann und meistens einem Gast als Sally Bowles. Voraussetzung ist hierfür natürlich, dass die Schauspieler wenigstens etwas dem Gesang mächtig sind. Ich besuche ja schließlich und vor allem ein Musical um schönen und qualitativ hochwertigen Gesang zu hören, wenn ich Schauspieler Texte im Rezitativ singen hören will, buche ich direkt einen Brecht/Dessau Abend.
Zur Besetzung: Susanne Burkhard ist als Fräulein Schneider nicht nur gut 30 Jahre zu jung, sondern hat auch eine Gesangsstimme die mir die Haare zu Berge stehen lassen (nicht im positiven Sinne). Da suchen die Töne eine Möglichkeit ihre Kehle zu verlassen und landen mit einem doppelten, missglückten Salto in den Hörgängen der Besucher. Ihre Schauspielszenen mit dem wunderbaren Klaus Zwick als Herr Schultz gehören allerdings zu den wenigen Highlights des Abends. Außerdem kann ich mich an keine "Cabaret" Inszenierung erinnern, in der der Darsteller des Herrn Schultz (zu Recht!) den meisten Applaus erhielt. Nun ja, verdient hat er es. Da wären wir auch schon bei der Hauptdarstellerin. Sally Bowles ist der Traum für jede Musicalsängerin und wurde bereits unter anderem von Ute Lemper, Isabel Dörfler, Anna Montanaro und Katharine Mehrling gespielt. In Oberhausen ist Vera Bolten Sally. Boltens Stimme kann man im Ansatz so beschreiben wie ein Eimer mit Schrauben in den man langt um dann langsam und sadistisch über eine Schultafel zu kratzen. Abwechselnd blökt, schreit und krakeelt sie sich durch den Abend und versprüht zu keiner Zeit den Hauch von mondänem Charme und Klasse, der für die Rolle so essentiell wichtig und selbstverständlich sein sollte.
Die wenigen Idee die Regisseur Spohr hat, wie z.B. die Wortspiele mit der deutschen und englischen Sprache und die daraus resultierenden Missverständnisse, sind schnell verpufft. Er scheint nicht wirklich zu wissen in welche Richtung er gehen soll und so bleibt z. B. das Thema des aufkeimenden Nationalsozialismus fast gänzlich unangetastet, obwohl es eine so wichtige und nicht zu vernachlässigende Rolle im Musical spielt. Selten stand der Conférencier so wenig im Mittelpunkt wie in dieser Inszenierung. Zu Beginn hat er zwar einen wirkungsvollen Auftritt durch den Bühnenboden, braucht dann aber eine gefühlte halbe Stunde bis er (wie originell!) die ersten Zeilen zu „Willkommen“ gefunden hat. Jürgen Sarkiss spielt ihn als eine Mischung aus Tom Waits und Dieter Thomas Kuhn mit bescheuerter Haartolle (Maske Thomas Müller) und geschmacklosem goldglänzenden Anzug (Kostüm Esther Bialas). Seine Stimme ist zwar annehmbar, doch lässt Sarkiss in seiner Interpretation die Tiefe und Komplexität des Undurchsichtigen vermissen. Die Rolle des Schriftstellers Cliff Bradshaw ist naturgemäß etwas undankbar. Sergej Lubic schafft es allerdings mühelos ihn noch langweiliger farb- und seelenloser zu gestalten als seine Vorgänger. Völlig deplatziert und wie aus einem anderen Stück willkürlich herein gerutscht, wirkt Anja Schweitzer als Fräulein Kost, deren Rolle in dieser Inszenierung so bedeutungslos erscheint, dass man sie hätte mühelos streichen können. An Fahrt gewinnt Spohrs Arbeit erst kurz vor der Pause mit „Der morgige Tag“. Während die Zeilen „Vaterland zeig uns den Weg...“ gesungen werden, erheben sich vereinzelte Personen im Publikum zum mitsingen. Das haben zwar Regisseure wie Jens Schmiedel bereits noch effektiver eingesetzt, dennoch ist diese Szene bedrückend und ein guter Schluss vor der Pause.
Den zweiten Teil eröffnet Bolten mit „Maybe This Time“, dass mir fast die Tränen in die Augen treibt, allerdings nicht vor Ergriffenheit, sondern vor Schmerz. Es ist mir unbegreiflich wie diese „Sängerin“ für diese Rolle verpflichtet werden konnte. Boltens schauspielerische Ambitionen bewegen sich irgendwo zwischen der minderbegabten Amateur Theatergruppe der VHS und „nicht vorhanden“. Da bekommt ihr Zitat als Sally gleich eine ganz andere Bedeutung: „Um eine wirklich gute Schauspielerin zu sein, braucht man ab und an Affären und ein gebrochenes Herz.“ Falsch, Frau Bolten. Um eine wirklich gute Schauspielerin zu sein, bedarf es um einiges mehr. Der tiefe Schmerz von Sally, ihre bei aller Exzentrik enorme Verletzlichkeit, ihre besondere Aura, die hystrionische Persönlichkeit, all das schafft Bolten nicht einmal ansatzweise über die Rampe zu bringen. Die einzigen Glanzpunkte der Produktion bilden Peter Waros als Ernst Ludwig und Klaus Zwick als Herr Schultz. Besonders Zwick besticht durch ein rührendes, intimes Portrait und setzt mit seinem „Miesnick“ einen humorvollen wie zarten Glanzpunkt.
Die Kat Kat Girls (Maria-Lena Hecking, Julia Brier, Ann-Marie Lone Gindner und Pascal Nöldner) sind sehr präsent und mühen sich redlich zur Choreografie von Andrea Heil, die leicht an Bob Fosse angelehnt ist. Eine richtige Shownummer im klassischen Sinne sucht man allerdings vergebens, denn „Money Makes The World Go Round“ und „Two Ladies“ geraten zu platten und peinlichen Slapstickversuchen. Da sitzen die Damen auf Hüpfbällen und springen wie grenzdebile Kinder auf selbigen herum (auf den Bällen, nicht auf den Kindern).
Das Theater Oberhausen greift auf die intime Fassung der Bar jeder Vernunft von Adam Benzwi und Johannes Roloff zurück. Musikalisch kann die sechsköpfige Band unter der Leitung von Otto Beatus überzeugen, was ich von der Inszenierung leider nicht behaupten kann, bei der es sehr viel Schatten und wenig Licht gibt, oder noch treffender wie es auf der hängenden Leuchtreklame zu lesen ist: „verschissen“ und „alles falsch“: dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
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